Julya Rabinowich, Autorin mehrerer Romane, Schauspielstücke und zweier Kolumnen in der österreichischen Tageszeitung DER STANDARD, schildert in diesem bisher unveröffentlichten Auszug aus dem autobiografischen Roman „Spaltkopf“ den ersten Eindruck der frisch emigrierten jüdisch-russischen Familie Rabinowich in der Österreichischen Natur. Lesegenuss pur.
Sie gingen ihren kleinen Gelüsten nach, freuten sich an der Natur, da sie ihnen neutral gegenüberstand. Wälzten unzählige Bücher. Versuchten zu vergessen, dass dieser Zustand eine kurze Pause war, in einem hübschen Haus mit Garten, mit freundlich grüßenden Nachbarn, mit gut und ausgewählt gefülltem Kühlschrank. Das Wetter ungewohnt mild.
Das Kind tobte seine angestaute Energie hinaus.
In der Gegend befindet sich eine verfallende Burg, die ein Künstlerfreund geerbt hat. Vom neugierigen Besitzer eingeladen, unternimmt die Familie einen Ausflug dorthin. Eine Burg, die nicht dem Volk, sondern bloss einer einzigen Person gehört, die nicht einmal ihren ständigen Wohnsitz dort hat, ist schlichtweg unerhört, eine Verschwendung geschichtlicher Wertigkeiten.
Die ungewohnt steilen Serpentinenkurven entlang durch austriakisches Gehölz gehen sie und staunen, als sich ein ohrenbetäubendes Getöse schräg vom Berg herab durch das Waldstück nähert. Die vier, die Leningrader Umgebung gewohnt, in der aufgrund massiver Umweltverschmutzung schon lange kein Tier mehr anzutreffen ist, fahren zusammen. Der Lärm bewegt sich mit großer Geschwindigkeit auf sie zu. Die Mutter fasst das Kind etwas zu fest. Die Alte runzelt störrisch die Stirn und weicht nicht einen kleinen Schritt zurück. Bleibt nur mit misstrauischem Blick stehen, sie ist zum Widerstand bereit.
Mit Krachen und splitterndem Geäst brechen mehrere Rehe aus dem Gebüsch am Wegesrand hervor, braune, elastische Leiber auf der Straße. Die Frauen kreischen laut. Der Mann bewaffnet sich beherzt mit seinem Fotoapparat und schwenkt ihn als Geschoß am Lederband drohend gegen die anstürmenden Widersacher, bereit, sich zwischen sie und seine Familie zu stellen. Fürs erste wird dieser Kampf für die Rehe entschieden. Die Familie weicht zurück. Das Kind ist verschreckt und weigert sich, weiter zu gehen. Es ist müde und nützt die Gelegenheit, mit verdoppelter Intensität zu weinen.
Sie finden sich mit dem Abbruch der Wanderung ab, sie drehen um und kehren in die Sicherheit des Wochenendhauses zurück. Dort packen sie ihre Staffeleien aus, um die unbewegte Natur aufs Papier zu bannen. Die sicherer und aus Entfernung nicht so fremdartig scheint. Es beruhigt sie, das neue Land Stück für Stück auf ihre eigene Landkarte zu übertragen.